Petrochemische Technosphäre

Chemische Industrien spielen eine wichtige, in der Technikforschung aber immer noch unterschätzte Rolle bei der Etablierung der Technosphäre und für den Verlauf der Geschichte im Anthropozän. Kunstdünger, Munition, Kunststoffe, Treibstoffe, Pharmazeutika sind Treiber für paradigmatische Anthropozän-Dynamiken in allen Sphären der erd- und soziotechnischen Systeme. (Observatorium für die große Beschleunigung). Aufgrund ihrer industriellen Technizität muss eine große Anzahl von Molekülen als Teil der Technosphäre angesprochen werden. Es ist die laufende „Transformation der Chemie“ hin zu nachhaltigen Prozessstrukturen, die ein Verständnis der gesamten Bandbreite industrieller Chemikalien für den aktuellen historischen Zustand erfordert.

Es sind zu einem großen Teil chemische Technologien, die sowohl zur vollständigen Etablierung der fossilen Technosphäre beitragen (Kipppunkte) als auch mögliche Wege des Wandels definieren (Veränderungen kollektiver Verhaltensweisen und Entscheidungen). Als Teil der Technosphäre verstanden, tauchen diese molekularen Agenten in weitest möglicher Spanne in den unterschiedlichsten Systemen der Mobilität, der Landwirtschaft, der Informationstechnologie, der Wissenschaften, des Urbanismus, der industriellen Produktion auf (Landnutzungsänderung und regenerative Praktiken). Sie sind Teil von mesosphärischen Maschinensystemen, von makrosphärischen Strukturen auf regionaler und planetarischer Ebene, aber sie sind auch auf der Mikroebene des chemischen Handelns selbst aktiv.

Kulturelle Theorien über diesen chemisch-industriellen Sektor der Technosphäre und die Wechselwirkungen mit der gesellschaftlichen und kulturellen Sphäre sind in der Wissenschafts- und Technikphilosophie noch zu etablieren. Was in den Blick gerät, ist ein bestimmtes Set von Ressourcen, Infrastrukturen und Prozessen, die in alle Schichten, Skalen, Geografien, politischen und kulturellen Systeme im Anthropozän eingreifen. Es werden sowohl exemplarische Einblicke in die gesamte Bandbreite technischer Skalen als auch in unterschiedliche geographische und kulturelle Erfahrungen mit der chemischen Technosphäre benötigt (Petrokulturvergleich).

Das Projekt adressiert zwei wesentliche Aspekte dieses chemischen Systems: die petrofossile Basis der chemischen Technosphäre im Anthropozän (Petromodernitätsforschung) und die Katalyse als eines der wichtigsten Werkzeuge und Handlungsmodelle der chemischen Industrie seit den 1890er Jahren (Katalyseforschung). Nur in der Kombination von fossilen Ressourcen (Kohlenwasserstoffe) und den industriellen Werkzeugen (Mischstoffkatalysatoren, Edelmetalle, Enzyme, Chemzyme) konnte und kann das volle Potenzial der (fossilen und postfossilen) Rohstoffe ausgeschöpft werden.

Eine neue „chemische Kulturtheorie“ sowie eine „Kritik der fossilen Vernunft“ müssen sich damit auseinandersetzen, um sowohl zu verstehen, wie die aktuelle chemische Technosphäre entstanden ist, als auch, wie das Feld transformiert werden kann Das Projekt erweitert bestehende Felder der Kultur- und Techniktheorie. Die Petromodernitätsforschung, die sich hauptsächlich mit Förderregimen („upstream“) befasst, wird auf die Systeme der „downstream“ und der chemischen Industrien im Allgemeinen ausgedehnt. „Erdöl“ als ein ebenso offensichtliches wie komplexes Material, das die Lithosphäre, die Biosphäre, die Atmosphäre und die Technosphäre miteinander verbindet, wird in den größeren systemischen Kontext weiterer Materialien und der entsprechenden Wissenschaften und Geographien gestellt. „Geoanthropologie“ wird als eine Perspektive verstanden, um die Auswirkungen dieses komplexen chemischen Systems auf die epistemologische und politische ‚conditio humana‘ in der aktuellen und zukünftigen Technosphäre zu interpretieren.

Das Projekt ist sowohl am MPI-GEA, als auch am Exzellenzcluster UniSysCat der TU-Berlin angesiedelt. Am MPI-GEA trägt es auch zu dem gemeinsamen Projekt Teleconnections: A Spatiotemporal Atlas of the Technosphere bei. Enge Projektpartner außerhalb des MPI-GEA sind am 'European Center for Just Transition Research and Impact-Driven Transfer' (JTC) angesiedelt.

Publikationen

Benjamin Steininger,Alexander Klose: Atlas of Petromodernity, Santa Barbara: punctumbooks 2024 (https://punctumbooks.com/titles/atlas-of-petromodernity/)

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